vorgelesen von Reiner Makohl
Der Vorrang der Jünger
und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
Die Perikope enthält zwei inhaltlich getrennte Textstücke: Der Text Lk 10,23-24 erzählt die Geschichte, in der Jesus den Jüngern klar macht, welche große Gnade sie deshalb erfahren haben, weil er, Jesus, unter ihnen ist.
Der Text Lk 10,25-37 erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Das Gleichnis beantwortet die Frage, wer denn der Nächste sei, wenn man den Nächsten doch laut Gottes Gebot lieben solle wie sich selbst.
Oft ist es so, dass uns Menschen, wenn uns großes Glück widerfährt, dies gar nicht recht bewusst ist.
In einer oft unruhigen Welt genießen wir das Privileg, in Frieden und Wohlstand zu leben. Wir wachen ohne Angst vor Krieg auf, unsere Kinder gehen sicher zur Schule. Nahrung, sauberes Wasser und ein Dach über dem Kopf sind für uns selbstverständlich - Luxus für viele andere. Medizinische Versorgung steht uns zur Verfügung, wir genießen Meinungsfreiheit und können unser Leben selbst gestalten. Diese Segnungen sind keine Selbstverständlichkeit.
Die Jünger genossen ein anderes Privileg. Ihnen war das Privileg gegönnt, dass Jesus unter ihnen und mit ihnen lebte, dass sie ihn unmittelbar sehen und und seine Reden direkt hören konnten. Das war für alle Generationen vor ihnen nicht möglich.
Zwar sehnten sich Propheten und Könige danach, endlich den Messias begrüßen zu dürfen, doch es passierte zu ihren Lebzeiten nicht.
War das den Jüngern klar? Offensichtlich nicht. Jesus sah sich veranlasst, dies in einer kleinen Rede an sie zu betonen.
Aus diesem Privileg heraus begründete sich für die Jünger nicht nur Dankbarkeit, sondern vielmehr die Verantwortung dafür, aus ihrem Glück heraus zu handeln, andere daran teilhaben zu lassen.
So, wie wir erkennen müssen, welches Glück uns widerfährt, wie dankbar wir dafür sein sollten - denn es ist zum allergrößten Teil nicht unser Verdienst! -, doch vor allem: Welche Verantwortung daraus erwächst gegenüber jenen, die nicht solches Glück erleben.
Jesus betont mit seinen Worten die einzigartige Stellung seiner Jünger als Augenzeugen seines Wirkens. Sie erleben unmittelbar die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen in Jesus Christus.
Die Verse deuten an, dass mit Jesus die von den Propheten und Königen ersehnte Heilszeit angebrochen ist. Die Jünger sind privilegierte Zeugen dieses entscheidenden Moments der Heilsgeschichte.
Diese Verse betonen also die einzigartige Bedeutung Jesu in der Heilsgeschichte und die besondere Gnade, ihn als Messias erkennen zu dürfen - eine Gnade, die auch heutigen Gläubigen durch den Glauben zuteilwird.
Die biblischen Gebote sprechen davon, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Dies ist der wesentliche Inhalt des Doppelgebots der Liebe ( Markusevangelium 12,29-31) und der Goldenen Regel ( Matthäusevangelium 7,12). Nun stellte sich schon zur Zeit Jesu immer wieder die Frage, wer den der Nächste sei. Welche Menschen sind in den Geboten gemeint?
Bis heute wird diese Frage gestellt, nicht selten, um gesellschaftspolitisches und politisches Handeln zu begründen, nicht selten, um parteipolitische Programme zu rechtfertigen.
Die Frage bewegt also keineswegs nur Christen hinter verschlossenen Kirchentüren. Die Antworten darauf besitzen eine hohe politische und gesellschaftspolitische Relevanz, weil sie über die Frage nach moralischen Werten hinaus Denken, Meinungsbildung und Handeln bis hin zu Gesetzgebung bestimmt.
Jesus antwortet auf die Frage danach mit diesem Gleichnis.
Aus evangelischer Sicht lassen aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10,25-37 insbesondere diese Botschaften herauslesen.
Die zentrale Botschaft ist die radikale und bedingungslose Nächstenliebe, die Jesus einfordert. Der »Nächste« ist nicht nur das Familienmitglied, der Nachbar, der Mitbürger in derselben Stadt oder im selben Staat, ist nicht nur der Glaubensbruder in der Gemeinde oder der Kirche, sondern jeder Mensch, dem man begegnet und der Hilfe benötigt - unabhängig von Herkunft, Religion oder Status.
Luther erklärte es einst so: »Unser Nächster ist jeder Mensch, besonders der, der unsere Hilfe braucht.«
Der Samariter, der dem Verletzten hilft, gehört einer von den Juden verachteten Glaubensgruppe an. Jesus bricht hier bewusst mit den damals gängigen Vorurteilen und zeigt, dass die Nächstenliebe keine Grenzen kennt.
Die Vertreter der staatlichen und religiösen Elite (Priester, Levit) gehen achtlos an dem Hilfsbedürftigen vorbei. Jesus kritisiert hier eine rein äußerliche, werkgerechtliche Frömmigkeit und fordert stattdessen die praktische Umsetzung der Nächstenliebe ein.
Das Gleichnis zeigt, dass die Barmherzigkeit der Kern des christlichen Glaubens und Handelns sein muss. Nicht Herkunft oder Status machen den wahren Christen aus, sondern die Bereitschaft zur selbstlosen Hilfe.
Obwohl im jüdischen Kontext erzählt, hat die Geschichte eine über Kulturen und Religionen hinausgehende Gültigkeit. Sie appelliert an die Menschlichkeit und Solidarität aller Menschen.
Das Gleichnis betont, dass der Nächste nicht einfach derjenige ist, der räumlich nahe ist oder zu unserer sozialen, nationalen oder religiösen Gruppe gehört, sondern insbesondere derjenige, der in Not ist und unsere Hilfe benötigt. Es ermutigt uns, Vorurteile zu überwinden und unsere Hilfe und Liebe bedingungslos zu denen auszudehnen, die in Not sind, unabhängig von ihren Unterschieden oder Hintergründen.
Insgesamt fordert das Gleichnis eine radikale Neuausrichtung des Denkens und Handelns - weg von Vorurteilen, Egoismen und religiöser Enge hin zu einer grenzenlosen Nächstenliebe aus Barmherzigkeit.
Anmerkung:
In den Jahren vor 1979 umfasste die Evangelienperikope zusätzlich vor den Versen 25 bis 37 die Verse 23 und 24 mit der Geschichte über die bevorzugte Stellung der Jünger durch die Gegenwart Jesu, also den Text Lk 10,23-37.
Perikope | Typ | Tag |
---|---|---|
1531 - 1898 | ||
Lk 10,23-24.25-37 | Evangelium | |
1899 - 1978 | ||
Lk 10,23-24.25-37 | Evangelium | |
Lutherische Kirchen 1958-1978 | ||
Lk 10,[23-24.]25-37 | Reihe I | |
1979 - 2018 | ||
Lk 10,25-37 | Evangelium + | |
seit 2019 | ||
Lk 10,25-37 | Evangelium + |
Frakturschrift ist nicht leicht zu lesen. Die Videos zeigen ausgewählte Texte aus der Lutherbibel von 1545, vorgelesen von Reiner Makohl.
Die Lutherbibel von 1545 ist mit ihrem Frakturzeichensatz nicht leicht zu lesen. Wir bieten Videos, in denen ausgewählte Perikopen aus den Sonn- und Feiertagsreihen vorgelesen werden.
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©2024 by Reiner D. Makohl | www.stilkunst.de
Bibeltexte: Dr. Martin Luther, Biblia, Wittenberg 1545
Zeichensätze der Frakturschriften, Typografie & Layout,
Video: Reiner D. Makohl
Sprecher: Reiner D. Makohl
Musik: ©Bluevalley, J.S.Bach, Präludium in C-Dur, Gitarre