Kleines Gebetbüchlein von 1817
Gebete für jeden Wochentag
»Alles, was ihr betet und bittet,
glaubt nur, dass ihr's empfangt,
so wird's euch zuteilwerden.«
Im täglichen Leben evangelischer Christen ist das Gebet von größter Bedeutung. Es ist die Kommunikation mit Gott. Diese Kommunikation ist Ausdruck des christlichen Glaubens im Sinne einer gelebten Beziehung zwischen Mensch und Gott.
In dieser Beziehung läuft keineswegs alles rund! Nichts darin ist selbstverständlich. Zwar fußen gute Beziehungen auf Vertrauen, doch wie oft wird das leichtfertig missachtet, ausgenutzt oder gar missbraucht? Wie oft sind Missverständnisse in Beziehungen Anlass für Ärger, für Enttäuschung, für Streit, oder sogar für Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Beziehung?
Wie in Beziehungen zwischen Menschen fällt auch die Beziehung zwischen Mensch und Gott nicht vom Himmel. Sie ist nicht automatisch perfekt. Sie hat zwar mit Gott zu tun als einen Partner in der Beziehung, aber sie ist deshalb nicht »gottgegeben«. Sie ist ein Angebot Gottes, dass wir annehmen, ignorieren oder ablehnen können.
Lassen wir uns auf dieses Angebot ein, dann reicht das Credo »Ich glaube an Gott!« allein nicht dafür aus, um eine gute Beziehung Gottes zu dem Gläubigen zu begründen. Die Beziehung ist zweiseitig. Sie muss von einem Christen gelebt werden, nicht nur von Gott, und an ihr muss ständig gearbeitet werden.
Oder anders ausgedrückt: Wenn wir hohe Erwartungen an Gott stellen, dann sollten wir auch seine Erwartungen respektieren und sie, so gut es uns möglich ist, erfüllen.
Das wiederum, geht nur, wenn darüber gesprochen wird. Beispielsweise im Gebet.
Das Gebet ist der Ort, in dem die Beziehung immer wieder gestaltet wird. Es ist die Begegnung mit Gott. In dieser Begegnung wird uns selbst offenbar, wer wir sind. Wir bringen unsere Gedanken mit und unsere Gefühle, unsere Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen. Es ist neben Bitten und Danken ein Ort der Selbstreflexion. Das ICH dominiert die Begegnung.
Diese Begegnung ist formal identisch mit der Begegnung zweier Menschen.
Wenn wir einem Menschen gegenübertreten, und dabei ein Ziel verfolgen, bringen wir uns situativ ein. Ein Ziel könnte es sein, eine Beziehung zu festigen. Zum Beispiel, wenn wir sagen: »Ich liebe Dich!«. Ziele könnten auch sein, Zeit mit einem Menschen zu verbringen, den man mag (»Wollen wir Essen gehen?«), oder einen günstigen Preis auszuhandeln (»Ist da am Preis noch etwas zu machen?«). Beispiele für Ziele gibt es viele.
Doch immer werden wir unser ICH darauf ausrichten, oft unbewusst, das Ziel zu erreichen. Und wir hoffen darauf, dass sich unser Gegenüber positiv auf uns einlässt! Wenn nötig, können wir hartnäckig sein. Dann verstärken wir in dieser Kommunikation unsere Aussagen mit weiteren Argumenten, mit Gesten und vielleicht auch mit guten Willensbekundungen und stellen eine hoffnungsvolle Zukunft in Aussicht (»Mit Dir möchte ich alt werden!«, »Das wird ein toller Abend!«, »Wenn der Preis stimmt, kaufe ich sicher mehr davon!«, usw.).
Im Gebet verhält es sich nicht anders.
So, wie wir üblicherweise vor anderen Menschen stehen, uns dabei selbst einbringen und uns auf die Situation einstellen, so können wir uns auch vor Gott stellen. Einfach so, wie wir sind, mit dem Anliegen im Gepäck, das uns bewegt.
Das Gebet erlaubt nicht nur das Bekenntnis des Glaubens, oder Bitten um Schutz und Hilfe. Das Gebet geht sehr viel weiter! Es erlaubt Fragen. Es erlaubt Zweifel. Es erlaubt Vorwürfe, die klärungsbedürftig sind. Es erlaubt nicht nur Lob, sondern auch Tadel. Es erlaubt, einem Ärgernis Luft zu machen, wenn nötig, ebenso wie Bezeugungen von Vertrauen und Liebe. Und es verlangt Hartnäckigkeit, und die Zusagen für eine bessere Zukunft.
In der Beziehung zu Gott sind wir Menschen nun mal so, wie wir sind. Ganzheitlich. Vollständig. Mit allem, was wir in Wirklichkeit Denken und Reden, mit allem, was wir tun und lassen.
Wir können uns nicht aufteilen in einen weltlichen und in einen kirchlichen Menschen. Und erst recht können wir nicht nur den religiösen, den gläubigen Teil in uns, in diese Beziehung mit Gott schicken. Ganz oder gar nicht! Wir sitzen nicht am Pokertisch, an dem es gilt, nur eine einzige Rolle zu spielen: Pokerface.
Die Beziehung zu Gott kann nicht verlassen werden, wie man einen Pokertisch nach dem Spiel verlassen kann. Sie findet auch zwischen den Gebeten und zwischen den Kirchgängen statt!
Wenn wir einem Menschen sagen: »Ich liebe Dich!«, dann wird er die Worte hören. Aber sie genügen nicht. Der Angespochene wird die Aussage rasend schnell prüfen! Er wird sie überprüfen an der Person, an ihren Eigenschaften, an ihren Charakterzügen, an ihrem Verhalten und an ihrem Handeln, soweit es sichtbar und bekannt ist, an ihren Stärken und Schwächen, an ihrer Verlässlichkeit und an der Ernsthaftigkeit, mit der die Person spricht. Denn die Frage, die sich dem Angesprochenen stellt, ist: Kann ich dem, der das sagt, und seinen Worten, die er spricht, vertrauen?
Das Gebet ist eine vertrauliche Angelegenheit. Das meint: Es setzt auf Vertrauen. Wir dürfen im Gebet und in der Beziehung zu Gott von ihm die nötige Offenheit erwarten, die dieses Vertrauen begründet. Das bedeutet aber auch: Auch wir müssen offen sein, dürfen uns nicht verstellen, und müssen die Grundlagen für Vertrauen schaffen.
Das ist in aller Regel ein langer Weg. Vertrauen entsteht nicht spontan. Zwar gibt es durchaus die »Liebe auf den ersten Blick«, aber auch in einer solchen Liebesbeziehung muss sich gegenseitiges Vertrauen erst entwickeln. Dafür ist es unumgänglich, möglichst viel gemeinsam zu unternehmen, möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen und möglichst viel gemeinsam miteinander zu sprechen. So lernt man sich kennen und gibt dem Gegenüber die Chance, zu vertrauen.
Beten benötigt wie Gespräche zwischen Menschen Zeit. Nur so lässt sich eine Beziehung gestalten und aufrechterhalten.
Es genügt nicht, nur einmal zu beten, oder zweimal, oder dreimal. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass sich Vertrauen nicht entwickelt, dass Missverständnisse aufkommen und sich Enttäuschung breit macht.
Aus Missverständnissen und Enttäuschungen wachsen Zweifel, die früher oder später den Enttäuschten dazu verleiten, sich aus der Beziehung zu lösen. Enttäuschte beten nicht mehr.
Und es kann noch schlimmer kommen: Enttäuschte Christen verneinen allzu oft die Gegenwart Gottes. Sie wenden sich von der Kirche ab. Viele verlieren ihren Glauben an Gott vollständig, zumindest auf einer rationalen Ebene.
Doch oft bleibt auch dann noch ein kleiner Rest an Gefühl, dass es etwas geben mag, was unser rationales Denken nicht fassen kann. Es tritt beispielsweise dann zutage, wenn uns außergewöhnliches Leid überfällt und unser Schicksal gefühlt »in Gottes Hand« liegt.
Dann wenden sich nicht selten auch solche Menschen in ihrer Not an Gott, die sonst mit Religion, Glaube und Kirche nicht viel zu tun haben wollen.
Doch Gott ist kein Arzt in einer Notaufnahme, den man nur aufsucht, wenn die Not es erfordert, und den man möglichst schnell wieder verlässt, sobald das Problem behoben, die Krankheit geheilt oder die Wunde versorgt ist.
Wer sich auf Gott einlässt, der wird recht bald feststellen: Gott ist ein Lebenspartner. Er begleitet uns durch unser gesamtes Leben. Und auch dann, wenn es uns gut geht, wenn wir in Frieden sorgenfrei leben können, möchte er dabei sein. Täglich.
Räumen Sie Gott Zeit mit Ihnen ein. Denn Vertrauen zu entwickeln braucht sehr viel Zeit. Es ist ein Prozess, der niemals endet. Und sollte er doch einmal abbrechen, können Sie ihn jederzeit neu beginnen. Im Gebet.
Gebetssammlungen, wie sie auf unseren Seiten erscheinen, oder wie sie in Ihrem Gesangbuch abgedruckt sind, möchten dazu anregen, sich diese Zeit täglich zu nehmen, eventuell auch mehrmals am Tag.
Die empfohlenen Gebete möchten Sie dabei unterstützen, Vertrauen zu entwickeln, Geduld zu haben, Missverständnisse zu vermeiden, und die Offenheit, in der die Begegnung gestaltet wird, mehr und mehr wachsen zu lassen.
Das soll nicht bedeuten, dass Sie Ihre eigenen Worte nicht beten dürfen. Im Gegenteil!
Gebete in Gebetssammlungen können nur allgemein gefasst sein. Sie bieten ein gutes Grundgerüst und sind immer dann sinnvoll, wenn Sie selbst nichts zu sagen haben, was für Sie persönlich aus Ihrem Leben heraus von Bedeutung ist, oder selbst nichts sagen möchten.
Doch wir sind uns sicher: Sie haben etwas zu sagen!
Unsere Empfehlung lautet daher: Bringen Sie immer wieder und immer öfter in ein Gebet die Themen ein, die Sie bewegen, und die für Sie zum Zeitpunkt des Betens von Bedeutung sind.
Das müssen längst keine großen, dramatischen Themen sein (wie beispielsweise Krankheit oder Trauer um einen geliebten Menschen), das können auch scheinbare Belanglosigkeiten sein, für die es sich lohnt, darüber im Gebet zu sprechen.
Gab es vielleicht einen ärgerlichen Zwist mit einem Nachbarn? Hat sie die Freude über Mohnblumen, die am Feldrand so herrlich erblühten, bewegt? War die fast unscheinbare Geste Ihres kleinen Kindes, die soviel Liebe bewies, nicht überraschend für Sie? Hat sie nicht ein wohliges Gefühl erfüllt, weil das Abendessen so schmackhaft zubereitet war?
Viele Menschen bewegen auch Sorgen. Da kann die bevorstehende Prüfung, das Bewerbungsgespräch oder ein Gespräch mit dem Chef Ängste schüren. Viele Eltern treibt die Sorge um ihre Kinder um. Man wünscht sich, dass der Partner nach einem Arbeitstag oder nach einer Dienstreise wieder gesund nach Hause komme. Und so weiter. Es sind Sorgen um die Zukunft, die wir mit unseren Angehörigen und Freunden doch sicher, gesund und in Frieden erleben möchten.
Also: Werden sie konkret! Formulieren Sie, was sie bewegt!
Seichtes Dahergeplapper, abgenützte Floskeln, leere Worthülsen, hochtrabendes Geschwafel, – womöglich noch in einer Sprache, die irgendwie »kirchlich« anmutet!, – niemand mag das! Auch Gott nicht.
Das Ziel ist es, dass sich die Macht des Betens
in Ihnen und in ihrer Beziehung zu Gott entfalten kann!
Doch es sei angemerkt: Wenn Sie Schwierigkeiten haben, solche Gebete zu sprechen, oder wenn Sie es ablehnen, sich derart im Gebet zu öffnen, dann ist immer und jederzeit das Vaterunser das richtige Gebet. Es genügt vollkommen. Es enthält alles, was für eine erfolgreiche Kommunikation mit Gott nötig ist.
Doch Vorsicht! Beten Sie es nicht aus Routine oder aus falsch verstandener, christlicher Disziplin heraus. Das Vaterunser darf nicht zu einer leeren Floskel oder zum Gelegenheitsgebet verkommen!
Das Gegenüber, Gott, wird rasend schnell prüfen, ob es in der nötigen Ernsthaftigkeit gesprochen und gemeint ist, welche konkreten, sehr persönlichen Anlässe und Beweggründe sich hinter den gesprochenen Bitten und Bekenntnissen befinden, und ob dem Sprecher Vertrauen geschenkt werden kann.
Sie sollten sich einmal die Zeit nehmen, über die Sätze im Vaterunser nachzudenken. Denn dieses Gebet ist keine Formel, die man formelhaft, mit abgeschaltetem Gehirn nachplappern sollte, sondern es ist ein hochgradig verdichteter Redetext, der genau auf Ihre Situation als Christ zugeschnitten ist.
Der Text ergibt nur dann Sinn, wenn Sie die Bedeutung der Bekenntnisse, Bitten, und Zusagen für künftiges Heil, die darin enthalten sind, für Ihr Leben verstanden haben.
Seien Sie dann nicht überrascht! Wenn Sie das Beten des Vaterunsers in der nötigen Konzentration und Ernsthaftigkeit beherrschen, werden sich bei jedem Satz, den Sie sprechen, im Ihrem Kopf neue Gedanken auftun. Diese Gedanken schwingen in Ihrem Gebet mit. Sie unterfüttern auf diese Weise unbewußt die gesprochenen Worte mit dem, was sie für Sie ganz persönlich bedeuten, und mit dem, was für Sie in diesem kurzem Moment wirklich wichtig ist.
Sie sollten das Vaterunser oft sprechen. Vielleicht täglich, vielleicht morgens und abends? Es geht dabei darum, dass Sie sich Zeit nehmen für ihre Beziehung zu Gott.
Schaffen Sie im Gebet Vertrauen und vertrauen Sie! Dann steht einer guten Beziehung zu Gott nichts im Wege.
Beten! – Was riskieren wir schon dabei? Nichts. Was kostet es uns, außer einigen Minuten Zeit, die wir vermutlich anderweitig kaum besser genutzt hätten?
Ein Workshop zum Thema Beten