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Muss man nicht lesen, kann man aber!

Abschied

22. Juni 2014

Über Marathonläufer und Wanderer

Gedanken über das Leben

Heute Morgen ist unser Bruder verstorben. – Es fühlt sich anders an, als man so sagt. Da ist keine Leere. Im Gegenteil: Der Kopf, das Herz und der Bauch sind voll von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen.

Es ist verwirrend, es lässt sich nicht sortieren und es bereitet Schmerzen. Ja.

Abendstimmung | ©by Sabrina Reiner | CC-BY-SA
Creative Commons Attribution-ShareAlike

Abendstimmung
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns, am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Foto: Sabrina | Reiner Makohl

 

 

Nein, dies hier ist nicht der Ort für Traurigkeit. Aber für Gedanken. Nein, nicht über den Tod. Aber über das Leben.

Ist es nicht so? Wir alle werden mit unserer Geburt an die Startlinie gestellt. Wir laufen los. Das Ziel ist klar, auch wenn man es verdrängt, auch, wenn man es nicht wahrhaben möchte. Irgendwann wird jeder von uns diese Ziellinie am Ende des Lebens überschreiten.

Auf der Strecke, die wir alle laufen, sieht man die unterschiedlichsten Laufstile.

 

Da sieht man beispielsweise den Marathonläufer. Für ihn ist die kürzeste Verbindung wichtig, die schnellste Strecke zum Ziel. Er rennt los und er überholt unterwegs viele. Er schaut nicht nach links und nicht nach rechts. Nur der Fortschritt zählt und das Überholen. Er ist eben fortschrittlich. Vielleicht zählt noch das Durchhalten. Er hat Kraft und Ausdauer.

Immer aktiv sein, immer stark sein und immer mitmachen. Für den Marathonläufer ist »Dabeisein« wichtig, auf der Strecke dabei sein im Kampf um die vorderen Plätze.

Und irgendwann kommt er an. Wenn er dann zurückblickt, kann er fast nichts berichten – außer davon, wie schnell, stark und ausdauernd er doch war. Wie viele er überholt hat. Er hat auch nichts mitgebracht. Keine Mitbringsel, keine Erinnerungen, keine bemerkenswerten Erfahrungen, außer der vielleicht, dass der Weg ab und zu steinig, die Strecke holprig und die Gegener zu schlagen waren. Er hatte weder die Zeit dafür noch die Lust, sich unterwegs zu belasten.

Wenn sich der Marathonläufer umschaut im Ziel, sieht er niemanden. Die applaudierenden Zuschauer entlang der Strecke sind längst verblasst. Niemand mehr da. Alle fort. Aber er war ja auch selbst für niemanden da. Im Grunde ist er sehr einsam vor sich hingerannt. Er bemerkte es nur nicht.

 

Ganz anders der Wanderer. Er schlendert gemütlich den Weg entlang. Für ihn ist der Weg das Ziel. Er nimmt jede Abzweigung mit und er freut sich über unbekannte Umwege. Er bleibt immer wieder stehen und betrachtet, was am Wegrand so zu sehen ist. Neugierde lässt ihn anhalten, Wissensdurst treibt ihn an.

Der Wanderer genießt den Ort, an dem er gerade ist. Er sucht den nächsten interessanten Punkt auf seinem Lebensweg. Er ist unstet und unruhig. Er interessiert sich für alles und jeden. Er ist immer auf der Suche. Er überholt nicht. Er begegnet anderen. Er nimmt sich etwas Zeit für dies und das und für diesen und jenen. Er ist einfach nur da, wo er ist. Genügt völlig. »Da sein« ist für ihn wichtig. Da sein für sich selbst und für andere.

Irgendwann kommt auch der Wanderer ins Ziel. Doch bestenfalls als Zweiter. Wanderer sind die ewigen Zweiten. Das stört sie aber nicht.

Wenn Wanderer zurückblicken, wissen sie viel zu erzählen. Ihr Rucksack, den sie mühsam mitschleppen, ist voll von kleinen Mitbringseln. Viele Erfahrungen sind darin, und Erinnerungen an Orte und Begegnungen. Erinnerungen daran, dass sie da waren. Und es gibt andere, viele andere, die sich an sie erinnern, weil sie Erfahrungen mit ihnen teilten.

»Da sein«, das kostet Zeit. Das ist verdammt schwer. Für sich und für andere. Marathonläufer können das nicht. Für sie sind Mitmenschen entweder Zuschauer, von denen sie Bewunderung erwarten, oder Gegner, die es auszuschalten und zu überholen gilt.

 

Auch wir sind Wanderer. Klar, wir werden immer nur Zweiter sein. Nicht schlimm. Unser Ziel ist das Jetzt. Wir genießen es, da zu sein. Das nächste Ziel liegt ganz klar vor uns: die nächste Abzweigung, der nächste Umweg, die nächste Begegnung. Wir sind gespannt und neugierig darauf.

 

Unser Bruder ist tot.

Meist war er ein Wanderer. Nur ab und zu legte er einen Spurt ein. Jetzt hat er die Ziellinie des Lebens überschritten. Aber das ist nicht mehr wichtig für ihn. Es war eigentlich nie wichtig. Meist war sein Weg sein Ziel. Meist war er da und rannte nicht vorbei. Das allein war, das allein ist wichtig. Für ihn und für andere. Manch einer hat in seinem Rucksack Erfahrungen sammeln können aus Begegnungen mit ihm. Auch wir. Das ist es, was zählt. Genügt völlig.

Reiner

Kategorien: In eigener Sache | Hope for the Future

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