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Muss man nicht lesen, kann man aber!

Rechenspiele im Für und Wider Atomstrom

4. April 2011

D ie atomaren Unfälle in Japan haben Folgen. Ganz klar. Eine unliebsame Folge sind fragwürdige Argumentationsketten, die sowohl Befürworter und wie auch Gegner der Atomenergie in die Diskussion werfen. Sie wollen Aufmerksamkeit erregen, sich Gehör verschaffen, verharmlosen und übertriebene Horrorszenarien zeichnen.

Brauchen wir das?
Was wir brauchen, ist schonungslose Offenheit in der Diskussion, die vernünftige Argumente abwägt und daraus Konsequenzen ableitet und zu vernunftbasierten Entscheidungen führt. Den Bürger, also den im Zweifelsfall betroffenen als ungebildeten Angsthasen oder als verblendeten Fanatiker zu karikieren, demaskiert die Disputanten. Brauchen wir nicht!

Jetzt hat sich im neuen FOCUS, Heft 14/2011, unter der Überschrift »Ein Land will aussteigen« Josef H. Reichholf zu Wort gemeldet. Er will mit Fakten aufwarten und führt sie an – in Form von Rechenspielen. Er weist darauf hin, dass »die Fakten besagen, dass Kohle als Energiequelle tödlicher ist als Kernkraft.« Und das gelte auch für die erneuerbaren Energien. Und dann kommt er, der abgenutzte Vergleich mit den Risiken im Straßenverkehr, der meiner Meinung nach in einer solchen Diskussion nun gerade mal gar nichts verloren hat: »Die Sachschäden mit eingerechnet, verursachen die Unfälle im deutschen Straßenverkehr pro Jahr Kosten von gut 30 Milliarden Euro.« Aha. Und nun?

Ist das ein Beweis dafür, wie harmlos dagegen Atomkraftwerke sind? Wie klein das Risiko ist und wie gering im Vergleich die Kosten bei Atomunfällen sind?
Da frage ich mich doch: Wo bleiben die übrigen Verdächtigen? Wie hoch sind Risiken und Kosten der Herz-Kreislauferkrankungen, der Depressionen, des Krebses, des Rauchens und des Alkoholmissbrauchs?

Völlig unklar ist mir: Wie werden die Zahlen eigentlich bewertet? Bei Verkehrsunfällen ist das ziemlich einfach. Es gibt konkret bezifferbare Kosten für Materialschäden und dem Einsatz der Hilfskräfte wie Feuerwehr, Rettungswagen, Ärzte und Behandlungsdienste. Dazu gibt es erfassbare betriebswirtschaftliche Kosten, die sehr leicht in die Rechnung einfließen und die Zahlen nach oben treiben.

Nehmen wir beispielsweise einen Autounfall an: Ein Pkw kracht mit hoher Geschwindigkeit an eine Ampel. Das Auto ist hinüber, der Ampelmast verbogen, der Fahrer stirbt noch am Unfallort, die Beifahrerin wird schwer verletzt und bleibt ein Leben lang behindert. Alle Kosten sind genau berechenbar: Das Auto, die Reparatur der Ampel, der Einsatz von Polizei, Rettungskräften, Ärzten und Feuerwehr; die Kosten für die Beerdigung des Opfers, Versicherungsleistungen und der betriebswirtschaftliche Ausfall seines Beitrags zum Bruttosozialprodukt, zu Versicherungen und zu den Sozial- und Krankenkassen; die Behandlungskosten der Beifahrerin, die Ausfälle, die Versicherungsleistungen und Renten. Auf Heller und Pfennig messerscharf kalkulierbar. Das sind die gut 30 Milliarden Kosten pro Jahr, die Verkehrsunfälle in Deutschland auslösen. Dem Unfallort wird man übrigens schon wenige Tage später nicht mehr ansehen, dass hier ein schreckliches Ereignis seinen Lauf nahm.

Und bei Atomunfällen? Wie berechnen sich da die Kosten? Das würden wir gerne einmal erfahren, bevor solche Rechenspiele verglichen werden.
Beispiel Tschernobyl: Wie bei den meisten Atomunfällen wird es den direkt betroffenen Opfern sehr schwer gemacht, nachzuweisen, dass ihr Schicksalschlag auf den Atomunfall zurückzuführen ist. Sie erhalten keine Ersatzleistungen, keine Zahlungen, keine Hilfe, keine Unterstützung, keine Renten, keine Reha-Maßnahmen usw. Dies schönt die Kostenstatistik immens! Zumal es um Tausende von Menschen geht, die – würde es sich um einen Verkehrsunfall handeln! – selbstverständlich als Opfer anerkannt wären.

Während die Kreuzung wieder aufgeräumt und für den Verkehr uneingeschränkt nutzbar ist, ist das bei Atomunfällen völlig anders: Zahllose Quadratkilometer Land sind für hunderte von Jahren verstrahlt und nicht mehr nutzbar. Der wirtschaftliche Schaden müsste hochgerechnet werden auf die lange Zeit. Na, die Zahl will ich gerne mal sehen!
Der Kraftwerkskomplex müsste abgetragen und »endgelagert« werden. Kosten, Kosten, Kosten – die nirgends auftauchen. Der Sarkophag, mit dem das zerstörte Kraftwerk Tschernobyl verschlossen wurde, zerfällt gerade. Er muss innerhalb der nächsten Jahre komplett erneuert werden und er muss für mindestens weitere 500 Jahre halten. Auch dieser neue Sarkophag wird das nicht schaffen. Noch viele Generationen müssen immer wieder die Schutzhülle reparieren, ausbessern und erneuern. Wo sind diese Kosten erfasst?
Müssten die Betreiber innerhalb kurzer Zeit das Land wieder nutzbar machen und die Müllhalden restlos entsorgen wie bei einem Verkehrsunfall, kämen Kosten auf sie zu, die jede vorstellbare Dimension von Gewinn und Verlust übersteigt.

Bei derartigen Unfällen wird der größte Teil der Kosten weggedrückt oder gar nicht erst erfasst. Es könnten sich ja auch Ansprüche daraus ableiten lassen. Es wird schöngerechnet. Wer zahlt die Produktionsausfälle japanischer Firmen? Wer zahlt die Fische, die im verseuchten Meer vor der Küste nicht mehr gefischt werden dürfen? Wer hilft dem Krebskranken, der in wenigen Jahren nur deshalb erkrankt, weil er heute einer hohen Bestrahlung ausgesetzt ist? Wer trauert um die Fehlgeburten und wer hilft den missgebildeten Neugeborenen? Wo tauchen diese Kosten auf? Wo werden die Kosten berücksichtigt, die durch den Ausfall an Einnahmen und Leistungen verursacht werden, weil Tote, Kranke und Behinderte nichts beitragen können zu unserem gemeinschaftlich erwirtschafteten Erträgen? Wer zahlt die Reparatur der Sarkophage zerstörter Kraftwerksblöcke, die im Jahre 2495 fällig sein wird ( oder 2530 – so genau wollen das nicht nehmen!)? Wer reinigt die Erde von Strahlenpartikeln? – Läuft beim Verkehrsunfall Öl aus, kommt die Feuerwehr und wischt es auf. Die Rechnung dafür zahlt der Unfallverursacher.

W ir meinen: Die nötige Ernsthaftigkeit der Diskussion sollte nicht durch Vergleiche herabgewürdigt werden, die fehl am Platz sind. Natürlich geht es um Zahlen. Es geht um Gewinne und um Verluste. Vor allem geht es um Verantwortung. Es sollte nicht darum gehen, uns mit lapidaren, aber kontextfremden »Fakten« in trügerischer Sicherheit zu wiegen.

Vielleicht – und das wäre toll! – könnte ja mal ein Betriebswirt die tatsächlichen Kosten ermitteln, die Tschernobyl von der ersten Idee auf dem Reissbrett bis zur restlosen Beseitigung des Mülls in 500 oder 1000 Jahren unter Einbeziehung aller Nebenkosten für Menschen, Landschaft und Staat verursacht haben wird. Aber womöglich würde dann festgestellt, dass eine Kilowattstunde Strom, die das AKW Tschernobyl während seiner Betriebszeit produziert hatte, im Grunde unbezahlbar teuer war und weit – sehr weit! – unter Preis verkauft wurde. Die Differenz sind jedoch leider keine nackten Zahlen in Buchhaltungen, sondern Menschenleben, Menschenschicksale und ein offener Kredit, den kommende Generationen abzustottern haben.

Sabrina

Kategorien: Politik | Atomkraft

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