GAU im AKW Fukushima Daiichi (Japan) am
11. März 2011
Der Tag in den Jahren 2011 bis 2018
Verweise führen zu den Kalenderblättern des jeweiligen Datums:
Abbildung: AKW Fukushima nach dem Seebeben und den Reaktorunfällen 2011.1 Zu sehen sind von rechts nach links die Reaktoren 1 bis 4 in zerstörten Zuständen.
Foto: Digital Globe | Lizenz: CC BY-SA
Am 11. März 2011 um 14:46 Uhr Ortszeit erschütterte das Tōhoku-Erdbeben den Meeresgrund vor der Ostküste Japans. Das Epizentrum lag etwa 163 km nordöstlich des Kernkraftwerks Fukushima. Damit wurde eine Reihe von Unfällen eingeleitet, die sich am und im Kraftwerk in den folgenden Sekunden und Tagen ereigneten.
Es ist das eingetreten, was nicht eintreten durfte: der größte anzunehmende Unfall (GAU). Die Unfälle von Tschernobyl und von Fukushima werden offiziell sogar als Super-GAU eingestuft. Doch dies sind nicht die einzigen Atomunfälle. Die Liste ist lang (siehe Wikipedia, Unfall in einem Atomkraftwerk).
Der 11. März 2011 ging nicht nur in die in weiten Teilen traurige Geschichte der Atomindustrie ein, er führte auch zu einem Stimmungsumschwung zulasten der zivilen Nutzung der Kernenergie. In Deutschland war dieser Unfall der maßgebliche Beweggrund, den lange diskutierten Ausstieg aus der Atomenergie sofort zu besiegeln.
Grund genug für uns, dieses Datum in unserem Kalender festzuhalten.
1Neuere Aufnahmen vom Kernkraftwerk zum Vergleich, die bereits ausgeführte Baumaßnahmen an den Reaktorgebäuden zeigen, finden Sie im Internet. Zum Beispiel bei Focus Online in Zusammenhang mit einem Bericht über ein neues Seebeben vor Fukushima am 25.10.2013.
Die Unfälle in Fukushima haben vor dem Hintergrund der Tragödie von Tschernobyl weltweit ungeheure Aufmerksamkeit provoziert. Gleichzeitig wurde mit einer eher beschwichtigenden Informationspolitik dagegen gesteuert. Sehr viele Informationen zum Unfallhergang sind in Wikipedia festgehalten. Wir können interessierten Lesern diese Seiten nur empfehlen, z. B.:
Dort finden sich zahlreiche weiterführende Links zu Informationsquellen.
Abbildung: Japanischer Arbeiter des Aufräumkommandos in Fukushima im Schutzanzug
Foto: U.S. federal government | Public Domain
Es hat ein Weilchen gedauert. Warum, ist unklar. Nun hat die japanische Regierung einen Umkreis von 20 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zum Sperrgebiet erklärt. Für über 80.000 2 Menschen ist damit die Rückkehr in ihre Häuser, Wohnungen und Geschäfte unmöglich. Sie können nicht mehr auf ihr Eigentum zugreifen. Viele Bewohner dieser Zone hatten in den letzten Tagen versucht, persönliche Habseligkeiten zu bergen und in ihr Exil zu retten. Darauf stehen nun hohe Strafen.
Die Situation entwickelt sich wie einst in Tschernobyl. Die ukrainische Stadt Prypjat nahe dem Atomkraftwerk wurde vor 25 Jahren evakuiert. Sie ist bis heute eine Geisterstadt. Sie wird es noch für Jahrhunderte bleiben. Die gesamte Stadt ist im Prinzip ein riesiges freiliegendes, oberirdisches Lager mit verstrahltem Müll.
Gleichzeitig spricht die japanische Betreiberfirma Tepco davon, dass sie vermutlich bis Ende des Jahres die Situation im Kraftwerk Fukushima Daiichi unter Kontrolle haben werden.3 Es sei unterstellt: Die Verantwortlichen kennen Tschernobyl. Sie kennen die Auswirkungen großer Atomunfälle.
Wieso sie den Menschen Hoffnung auf Rückkehr machen, ist nicht klar. Es verzögert die Entscheidung, die betroffenen Menschen endgültig umzusiedeln und gerecht zu entschädigen. Klar ist: Dadurch gewinnen sie Zeit, dadurch sparen sie Geld. Was kostet eine komplette Stadt für 80.000 2 Menschen, voll möbliert und gut ausgestattet vom Rathaus über Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren und Straßen bis hin zu gefüllten Kühlschränken in den Wohnungen ihrer Bewohner?
Nach Tschernobyl hätte man besser vorbereitet sein können. Man hätte besser vorbereitet sein müssen! Wir hoffen, die Atomkraftwerksbetreiber in Deutschland besitzen für den Notfall Evakuierungspläne in ihren Schubladen. Pläne, die nicht nur den Abtransport der Menschen in eiligst errichtete Container-Siedlungen, sondern auch ihre Versorgung und den standesgemäßen, dauerhaften Verbleib an einem sicheren Ort mit einschließen.
2 Zum Jahrestag am 11. März 2014 kamen neue Zahlen auf den Tisch: Die Tsunami- und Reaktorkatastrophe forderte mehr als 20.000 Todesopfer. Bis März 2014 lebten immer noch 250.000 bis 300.000 Menschen (die Angaben schwanken) in Behelfsunterkünften. Es sind nur die Menschen, die sich aus eigener Kraft oder mit der Unterstützung von Freunden und Familie kein neues Zuhause irgendwo in Japan schaffen konnten. Für ihre Zukunft zeichnet sich noch keine Vision ab, und damit schwindet die Hoffnung, auf ein normales Leben. Nun steht auch fest: Große Gebiete rund um das AKW werden voraussichtlich für immer Sperrgebiet bleiben müssen und können nicht wiederbesiedelt werden.
3 Wie es zu erwarten war: Diese Annahme vom April 2011 hat sich leider bis Ende 2011 nicht bewahrheitet.
Zum Jahrestag am 11. März 2014 ging erneut Nachricht durch die Medien, dass die japanische Regierung möglichst schnell alle zzt. stillgelegten Atomkraft-Meiler wieder hochfahren will. Auch hier wiederholt sich die Geschichte von Tschernobyl, wo die intakt gebliebenen Meiler noch Jahre nach dem Super-GAU betrieben wurden. Doch das Geld, das damit eingenommen wurde, reichte offensichtlich nicht, um die Aufräumarbeiten und den nötigen Sarkophag zu finanzieren. Der Strom wurde unter den Betriebskosten des AKW Tschernobyl verkauft. Schließlich wurde Tschernobyl stillgelegt. Internationale Hilfe in Milliardenhöhe war nun nötig. Man bat um Hilfe von den einstigen Nutznießern. Gezahlt haben vor allem Regierungen, also Steuerzahler. Wird auch Fukushima seinen Sarkophag bekommen? Und wer wird dort die Kosten tragen?
Sind Sie ein potentiell Betroffener? Nehmen Sie eine Landkarte. Markieren Sie die nächstgelegenen Atomkraftwerke. Malen Sie vier Kreise mit den Radien 10km, 20km, 30km und 200km um die Kraftwerke. Falls Sie innerhalb eines dieser Kreise wohnen – das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit so sein! – können Sie sehr stark bis deutlich betroffen sein, wenn es zu einem Atomunfall in diesen Kraftwerksanlagen kommt.
Bei einem GAU (größter anzunehmender Unfall) ist der innerste Kreis die Todeszone. Hier werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bewohner sofort sterben oder so stark verstrahlt werden, dass ihre Lebenserwartung auf Stunden, Tage, Wochen oder wenige Monate schrumpft.
Je nach Schwere des Unfalls werden die Bewohner innerhalb des zweiten oder dritten Kreises zu evakuieren sein. In Fukushima zog man mit 20km den Kreis enger, in Tschernobyl waren es 30km (60km Durchmesser).
Evakuierte können bestenfalls leichtes Handgepäck und die Kleidung am Leib mitnehmen, alles andere wird innerhalb kurzer Zeit atomverstrahlter Müll werden und bleiben.
Die Lebensbedingungen werden für alle schwer, aber auch die Wirtschaft wird erschüttert. Beispiel Biblis: Der Frankfurter Flughafen liegt nur etwas mehr als 30km Luftlinie von Biblis entfernt. Würde er bei einem Atomunfall in Betrieb bleiben? Vielleicht. Hängt von den tatsächlichen Ereignissen und vom Umfang der Emissionen und der Strahlungsverteilung ab. Man darf damit rechnen, dass zumindest der herkömmliche Personen- und Frachtverkehr nicht mehr oder nur noch beschränkt stattfinden würde.
Frankfurt ist eine wichtige Metropole. Ein GAU in Biblis könnte die Bedeutung des Finanzzentrums Frankfurt radikal ändern. Das gesamte Rhein-Main-Gebiet südlich des Flughafens könnte Evakuierungszone werden. Bis hinunter nach Speyer. Dazwischen: Mainz, Rüsselsheim, Darmstadt, Oppenheim, Alzey, Worms, Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen und viele kleinere Städte und Dörfer.
Sehr viele kleine, mittlere und größere Betriebe würden aufhören, zu existieren. Von jetzt auf sofort. Es wären weit mehr als 80.000 Menschen betroffen. – Aber was schreibe ich hier? Ist doch alles bekannt. Es wird immer erwähnt und dann mit dem Begriff »Restrisiko« zusammengefasst. Das jedenfalls gehört dazu, zu diesem Restrisiko. Es wird in Kauf genommen.
Das gilt nun nicht nur für Biblis so – dieses Kraftwerk wurde infolge der Ereignisse und politischen Entscheidungen nach Fukushima vorzeitig vom Netz genommen4 ! –, Biblis steht hier nur als Beispiel, verwendet als Platzhalter in einem simplen Planspiel auf einer Landkarte. Das gilt für jedes Atomkraftwerk weltweit. Malen Sie Kreise und überlegen Sie, was sich wie ändern würde im Falle eines GAUs.
Innerhalb des vierten Kreises (ca. 200km) ist die Strahlung immer noch so hoch, dass mit gesundheitlichen Schädigungen und Langzeitfolgen zu rechnen ist. Heute noch sind einige Gebiete in Bayern durch Tschernobyl hochgradig belastet und der Verzehr von Wild aus diesen Gebieten wird nach wie vor nicht empfohlen. Wetterlagen verformen diese Zone extrem. Auch dann, wenn Sie nicht evakuiert werden: Verlassen Sie die Gegend nach einem Atomunfall sicherheitshalber sofort. Das Restrisiko für ihre Gesundheit tragen Sie.
4 Im April 2011, als wir diesen Artikel verfassten, war die endgültige Stilllegung des Kernkraftwerks Biblis noch nicht beschlossen.
Das Kraftwerk Biblis besaß zwei Blöcke, den älteren Block A und einen neueren, Block B. Block A musste bereits am 18. März 2011, kurz nach dem Fukushima-Unfall, vom Netz genommen werden. Block B befand sich derzeit in Revision und lief nicht. Es wurde eine vorerst dreimonatige Stilllegung der Blöcke angeordnet. Am 31. August 2011 gab die Bundesnetzagentur bekannt, dass das Kraftwerk nicht mehr angefahren werden soll und nicht als Kaltreserve zur Verfügung stehen solle. Inzwischen wird nach Verlautbarungen vom Betreiber der Abriss geplant. Die Arbeiten werden mehrere Jahre in Anspruch nehmen und hohe Kosten verursachen.
Quelle: Wikipedia: Kernkraftwerk Biblis.
Wir hatten es bereits an anderen Stellen erläutert: Unter Berücksichtigung der Planungs-, Betriebs- und Folgekosten lieferte das Tschernobyler Atomkraftwerk W. I. Lenin umgerechnet auf die Kilowattstunde wohl den teuersten Strom, der jemals produziert wurde.
Geschlagen werden können diese Kosten noch immer vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Dort sind Folgen noch längst nicht auch nur annähernd abschätzbar. Gut zwei Jahre nach dem Unfall hört man in den Nachrichten noch immer von neuen Lecks in Systemen, die hochgradig kontaminiertes Wasser in die Umwelt leiten und somit die Folgen verschlimmern und die Kosten in die Höhe treiben.
Es ist mehr als fraglich, ob jemals eine umfassende Kostenrechnung erstellt werden kann und wird. Dies ist in diesem Fall besonders schwer, weil sich die Kosten der vorausgegangenen Naturkatastrophe des Tōhoku-Erdbebens mit den Kosten der daraus folgenden Unfälle vermischen. Laut Focus Online sprach angeblich der Rückversicherer Zunichte Re in diesem Fall von »der teuersten Naturkatastrophe aller Zeiten« (Focus Online, Artikel »Starkes Erdbeben erschüttert Japan – Behörden evakuieren Fukushima« vom 25.10.2013)
Mehr dazu finden Sie in unseren BLOG-Artikeln: Atomkraft
Apropos Rückversicherer: Der größte und zuverlässigste Rückversicherer, der immer eingreift, sind wir Steuerzahler und Staatsbürger – vom Säugling bis zum Rentner! Wir stehen ein für Katastrophen aller Art, für wirtschaftliche Fehlentscheidungen, für politische Kurzsichtigkeit und für schwächelnde Unternehmenskonzepte bis hin zu Atomunfällen. Wir decken das Restrisiko mit unserem Geld, mit Leistungsverzichten, mit unserer Gesundheit und im Zweifelsfall mit unserem Leben.
Bedauerlich: Angesichts dieser unbeschränkten Sicherheiten, verbunden mit der immer wiederkehrenden Erfahrung, dass es funktioniert (beispielsweise bei Atomunfällen, Bankenkrisen, Eurostabilisierung, Diesel-Skandal, Kohleausstieg, usw.) steigert sich die Bereitschaft, das Restrisiko nicht mehr sachgerecht abzuwägen, sich nicht mehr auf den Worst Case vorzubereiten und katastrophale Risiken zu verharmlosen, extrem. Der Begriff »Restrisko« meint in der Rückschau dort, wo es eingetreten ist, de facto stets eine leichtfertige Manipulation wichtiger Entscheidungsgrundlagen für Planung und Durchführung zum Nachteil der Bürger, der Bevölkerung und der Gesellschaft, auch staatsübergreifend, die in allen Fällen als Rückversicherer eintreten.
Nach den Erfahrungen mit Tschernobyl und Fukushima stellt sich die Frage, ob nicht wenigstens die Todeszonen von Kernkraftwerken weltweit präventiv sukzessive zu räumen wären. Ob nicht die größere Umgebung aus Sicherheitsgründen präventiv Sperrgebiete werden müssen und zu Naturschutzgebieten umgewidmet werden, in denen jede Form von Ansiedlung und Bewirtschaftung verboten ist? Beispielsweise mit Hilfe von Baustopps in diesen Gebieten. Beispielsweise mit Aufklärung und der Förderung eines Umzugs der Bewohner. Beispielsweise durch Beschränkung von Gewerbe, usw. Aber wer soll das alles bezahlen?
Na, wer schon?!
Sicherlich: Das ist teuer und kostet Geld. Aber es wäre der gesetzlich vorzuschreibende Preis, der zu zahlen ist, wenn man »billigen« Atomstrom möchte. Gerechnet auf die Laufzeit eines AKW würde es die Kosten für eine Kilowattstunde Strom nur unwesentlichen erhöhen. Aber dadurch werden im Fall des GAUs oder Super-GAUs nicht nur Kosten extrem gesenkt, es würden notwendige Maßnahmen sehr viel schneller realisiert werden können, Aufräumtrupps könnten unmittelbar flächig und zielstrebig eingesetzt werden, Hilfskräfte, die für Evakuierungen gebraucht würden, wären in weit aus geringerer Zahl notwendig und deutlich weniger Gefahren ausgesetzt, usw. Der Return on Investment wäre in nur einem einzigen Schadensfall immens, wie Tschernobyl und Fukushima beweisen. Das ist das wirtschaftliche Argument. Das stärkste Argument jedoch ist: Im »Restrisiko« wären sehr viel weniger unmittelbare und mittelbare Todesopfer und Strahlenopfer einzuplanen.
»Restrisiko« darf kein Freibrief dafür sein, Menschen bereits in der Planung bewusst und vorsätzlich zu Opfern zu machen, obwohl es nachweislich vermeidbar wäre.
Am 26. April 1986 ereignete sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Wir untersuchen die Argumente des Für und Wider Atomstrom.